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Die Menschenfabrik

nach Oskar Panizza

Uraufführung 1. Oktober 2016



DER WANDERER Andreas Mayer DAS SCHWARZE MÄNNLEIN Margrit Carls DER KREATÖR Ardhi Engl DIE WERKMEISTERIN Urte Gudian DAS PRODUKT Kathrin Knöpfle

Regie Andreas Seyferth Choreographie Urte Gudian Klang & Video Ardhi Engl Raum/Mitarbeit Video Peter Schultze Kostüm Johannes Schrödl Lichtdesign Jo Hübner Adaption Margrit Carls Flyer: Martina Körner Motiv: Ardhi Engl



"Die Menschenfabrik" erzählt die Geschichte eines Wanderers, der ohne Plan und Kompass "mutterseelenallein dahintappt" und schließlich "von der Dunkelheit überrascht" ein Nachtquartier sucht. Kurz vor Mitternacht stößt er auf ein monströses Haus, das an eine Industrieanlage erinnert. Der stolze Betreiber (ein "schwarzes Männlein") führt ihn herum; der fassungslose Besucher erfährt, dass man hier Menschen fabriziere wie der Bäcker das Brot. Man erfülle jeden Kundenwunsch, ob er nun ein perfektes Äußeres betreffe oder den Verzicht auf lästige Eigenschaften wie selbständiges Denken oder eigenen Willen. Auch die Kinder werden nach Gusto "gebacken" - niedliche Wesen, die auf ihrer jeweiligen Schöpfungs-Stufe verharren: Entwicklung ist nicht vorgesehen. Der neue Mensch hat stabil und vorhersagbar zu sein.


Zweitausendsechzehn: George Orwells Big-Brother-Dystopie "1984" ist locker getoppt; Aldous Huxleys schöne Welt der fröhlichen Ignoranz global umgesetzt; und zu guter Letzt schickt sich das vermessene ("quantifizierte") und optimierte Selbst an, per Verschmelzung mit den High-Tech-Kreationen seiner Zeit unsterblich zu werden: Von derlei konnte Panizza seinerzeit nicht einmal albträumen (obwohl: wer weiß). Und doch haben wir bei seinem hellsichtigen "Dämmerungsstück" von 1890 (42 Jahre vor Huxleys "Schöne neue Welt", inspiriert von Dichtern wie E.T.A. Hoffmann und Edgar Allan Poe) all diese heutigen Phänomene vor Augen...


Genossen auf der spartenübergreifende Reise in gruselig-groteske Gefilde sind die Stimm- und Bewegungskünstlerin Urte Gudian sowie der Klang- und Videotüftler Ardhi Engl. Erstmals im Ensemble: Die Tänzerin und Performancekünstlerin Kathrin Knöpfle und unser Wanderer Andreas Mayer.


WANDERER

Halt! - Noch eine Frage: Können Ihre Menschen denken?

MÄNNLEIN

Nein! Nein! Das haben wir glücklich abgeschafft!

WANDERER

Damit gewinnt Ihre Neuschöpfung für mich ganz außerordentlich. Ich kannte einen Menschen, der denken musste - ganz gegen seinen Willen! Und zwar Dinge, die nicht er, sondern die sein Kopf wollte; er musste seine Gedanken wider Willen akzeptieren, ich sage Ihnen: kompliziert...!

MÄNNLEIN

Kenn ich, kenn ich, weiß ich, wir sind vollständig orientiert über die Bedürfnisse dieses Jahrhunderts, wir wissen um die Mängel der Gattung Mensch, wir bieten die neuesten Lösungen!...





"Ich bin kein Künstler, ich bin Psichopathe,

und benutze nur hie und da die künstlerische Form,

um mich zum Ausdruck zu bringen.

Ich will nur meine Seele offenbaren,

dieses jammernde Tier,

welches nach Hilfe schreit."

Oskar Panizza


"Die alte Welt liegt im Sterben, die neue ist noch nicht geboren; es ist die Zeit der Monster." Antonio Gramsci


"Das Problem ist der Mensch, der in allen Facetten des Irrsinns hergestellt wird." Sybille Berg


PRESSESTIMMEN


Aufzeichnungen eines "Psichopathen"

... eine hochartifizielle, multimediale Inszenierung [...], ein psychedelischer Bilderreigen, der sich allerdings nicht in Bildern und Klängen erschöpfte, sondern stringent der Grundidee der Panizza-Vorlage folgte. Das gewährleisteten Margrit Carls als das schwarze Männlein und Andreas Mayer als der verirrte Wanderer. Mayers Spielgestus traf sich durchaus mit der Vorstellung vom Menschen Oskar Panizza, dessen Themen überwiegend autobiografisch geprägt waren, dienten sie doch nicht selten der Selbsttherapie des psychisch labilen Schriftstellers. Andreas Mayer gab einen gehetzten, aber aufbegehrenden jungen Mann, dem alle Zerrissenheit überdeutlich anzusehen war. Margrit Carls schwarzes Männlein wirkte skurril in der Erscheinung, transzendent in Gestus und Sprache. Im Prosatext wird das schwarze Männlein gefragt, was er eigentlich sei, Kunst- oder Natur-Mensch. Die Frage wird nicht in aller Deutlichkeit beantwortet. Auch das Kostüm von Johannes Schrödl, bestehend aus weißem Kopfverband, schwarzem Frack, darüber ein schwarzes Rüschen-Stützkorsett und mit schwarzrandiger Brille beantwortete diese Frage nicht eindeutig. Irgendwie erinnerte Frau Carls an Harold Lloyd, der seine Komik häufig aus seiner Erscheinung zog. Urte Gudian und Kathrin Knöpfle vervollkommneten das Ensemble als Geister der Nacht, Werkmeisterin und das verführerische Produkt, oder, am Ende, einfach nur Bürgerinnen, die den Wanderer und das Publikum in die Realität zurückbrachten. Es war eine kurzweilige und inszenatorisch gelungene Inszenierung in denen sämtliche Aktionen und Interaktionen, realisiert mit den denkbar unterschiedlichsten Mitteln, bestens funktionierten. Es war eine Augenweide, Kathrin Knöpfles Verführungstanz anzuschauen. Die Choreografien von Urte Gudian brachten Inhalt und Stimmungen auf den Punkt. Ardhi Engls z.T. sehr ungewöhnliche Klangkulissen, die Helene Fischer geschulten Hörgewohnheiten nicht unbedingt schmeichelten, waren erregend und aufregend. Wenn die Macher ihre Inszenierung als "Amalgam aus Tanz, Klang, Schauspiel & Video" bewerben, kann ohne Vorbehalte zugestimmt werden. Heraus kam eine glänzende, wertvolle Legierung, die den Alchimisten zur Ehre gereichte. Darüber hinaus soll aber auch auf das Verdienst verwiesen werden, dass dem Team mit der Wiederentdeckung Oskar Panizzas gebührt. [...] Wann vermochte Literatur zuletzt in so ungläubiges Erstaunen versetzen? Die zeitgenössische Literatur leistet das kaum. Wie auch, wenn die Autoren aus den Brutkästen des saturierten Kulturbetriebes schlüpfen und zuallererst, noch vor dem Leben, ihre Autobiografien schreiben. Lassen wir also Oskar Panizza das letzte Wort: "Ich bin kein Künstler, ich bin Psichopathe, und benutze nur hie und da die künstlerische Form, um mich zum Ausdruck zu bringen. Ich will nur meine Seele offenbaren, dieses jammernde Tier, welches nach Hilfe schreit." Wolf Banitzki / theaterkritiken.com


(AZ)



Fotos: Hilda Lobinger


MEHR ÜBER OSKAR PANIZZA


Abseits des literarischen Mainstreams Eine Skandal-Figur der Münchner Bohème Leopold Hermann Oskar Panizza - Vom Irrenarzt zum Insassen 12. November 1853 (Bad Kissingen) - 28. September 1921 (Bayreuth) Vater italienischer Katholik, der auf katholischer Erziehung besteht; Mutter "eifernde" Pietistin hugenottischer Herkunft, die die (fünf) Kinder nach dem frühen Tod des Vaters evangelisch umtaufen lässt. Dem folgen jahrelange Prozesse mit dem katholischen Pfarrer, die die Mutter durch alle Instanzen verliert: worauf sie ihre Kinder zu Verwandten in protestantisches "Ausland" jenseits der bayerischen Grenzen schickt. Entgegen Mutters Plan, der ein Theologiestudium für Oskar vorsieht, bricht er die Schule ab, nimmt Gesangsunterricht am Münchner Konservatorium, verweigert sich auch Mutters Plan B, das elterliche Hotel zu übernehmen; bricht ein Volontariat ab, wird eingezogen (und krank); holt mit 23 Jahren sein Abitur nach; studiert Medizin, assistiert dem Direktor des Klinikums links der Isar; promoviert 1880 summa cum laude und arbeitet schließlich zwei Jahre als Assistenzarzt an der Kreis-Irrenanstalt unter Professor Bernhard von Gudden (dem "Kini-Entmündiger"). Nach einem kurzen Intermezzo als niedergelassener praktischer Arzt, einer längeren Depression - er fürchtet, wahnsinnig zu werden ( in der mütterlichen Verwandtschaft gibt es einige Selbstmörder und religiös Verwirrte) - wirft er sich schließlich auf die Literatur: Eine der Mutter abgerungene Rente macht es möglich.

"Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein." Friedrich Nietzsche

Der Avantgarde-Autor (Dichter, Dramatiker, Erzähler, Essayist, Publizist und Herausgeber) Oskar Panizza erfährt von der ersten Veröffentlichung (1885: "Düstre Lieder" in der Tradition Heinrich Heines) bis zur letzten (1899 "Parisjana": klassenkämpferische Balladen gegen Kaiser Wilhelm II) wenig bis gar keine literarische Anerkennung. Umso mehr Resonanz finden seine Werke bei der Staatsanwaltschaft. Panizza, der innerhalb der Münchner Szene den genialisch-verrückten Syphilitiker gibt, reitet seine Attacken gegen wilhelminischen Staat und katholische Kirche, gegen religiösen Wahn und sexuelle Unterdrückung: Die Konfiszierung von Werken wie "Die unbefleckte Empfängnis der Päpste" lässt nicht auf sich warten. Sein Hauptwerk, die Groteske "Das Liebeskonzil - eine Himmelstragödie" (1894 in Zürich erschienen; 1969 in Paris uraufgeführt), mündet in den größten Skandal der Zeit - und eine (beispiellos hohe) einjährige Haftstrafe wegen Blasphemie. Beim Prozess müht sich die Münchner Staatsanwaltschaft um größtmögliche Härte, Oskar Panizza um größtmögliche Provokation.

"Nichts ist schöner als der Geist des Menschen." David Gelernter

Nach der Haft - die ihn weiter radikalisiert - emigriert er 1896 in die Schweiz; da sich für ihn kein Verleger mehr findet, gründet er einen eigenen Verlag; gibt die Zeitschrift "Zürcher Diskußjonen" heraus (die phonetische Schreibweise wird eine Spezialität von ihm); ferner eine Satire auf die politische Instrumentalisierung der Psychiatrie. 1898 die Ausweisung - völlig unerwartet und ein Schlag für seine nicht eben stabile Psyche. Er zieht weiter nach Paris, mit zehntausend Büchern im Gepäck.

"Solche Irrsinnigen sind unberechenbar." Otto von Grote (Panizzas ehemaliger Mäzen)

Reale Verfolgung und Verfolgungswahn: Er kapselt sich mehr und mehr ab. Sein Aufruf zur "Revoluzion" in den erwähnten Balladen "Parisjana" ruft erneut die Münchner Justiz auf den Plan: Internationaler Steckbrief, Konfiszierung seines Familienerbes. Auf Unterstützung der Familie kann "das schwarze Schaf" nicht hoffen: Als es für die Miete nicht mehr reicht, stellt er sich 1901 den bayerischen Behörden, um an sein Geld zu kommen. Er wird inhaftiert, in der Kreis-Irrenanstalt auf seinen Geisteszustand untersucht, für unzurechnungsfähig erklärt und entlassen; die Anklage wegen Majestätsbeleidigung lässt man fallen, sein Vermögen gibt man frei. Rückkehr nach Paris: dort findet er nicht einmal mehr einen Drucker. Was er jetzt noch schreibt, bleibt unveröffentlicht.

"Wenn jemand denkt und darf seine Gedanken nicht mehr anderen mitteilen, das ist die grässlichste aller Foltern..." Panizzas Teufel im "Liebeskonzil"

Der Wahn einer großen Verschwörung gegen ihn gewinnt Oberhand, akustische Halluzinationen quälen ihn - er diagnostiziert bei sich eine "Dissozjazjon der Persönlichkeit" und weist sich 1904 selbst ein. Die Kreis-Irrenanstalt lehnt ab, aus einer privaten Anstalt fliegt er raus. Er provoziert weitere Einweisungen. 1905 die Entmündigung (gegen seinen Willen). Am Ende wird er über sechzehn Jahre in Irrenanstalten zugebracht haben - die letzten vierzehn in einem Luxussanatorium in Bayreuth. "Ein Poet, der umsunst gelebt hat": heißt es in einem seiner letzten Gedichte.

"Es ist manchmal eine angemessene Reaktion auf die Wirklichkeit, verrückt zu werden." Philip K. Dick


Die Familie verweigerte einen Grabstein wie auch die Freigabe der Urheberrechte, so dass eine Rezeption erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einsetzen konnte.

"Diesen Mann kennen heute nur noch ganz wenige, und auch seine Bücher sind größtenteils vergriffen, und er selbst lebt in Franken in einem Irrenhaus. Dahin brachte man im Jahre 1904 den Dr. Oskar Panizza, der wohl, als er noch bei Verstande war, der frechste und kühnste, der geistvollste und revolutionärste Prophet seines Landes gewesen ist. Einer, gegen den Heine eine matte Zitronenlimonade genannt werden kann und einer, der in seinem Kampf gegen Kirche und Staat, und vor allem gegen diese Kirche und gegen diesen Staat, bis zu Ende gegangen ist." Ignaz Wrobel (Tucholsky) 1920

"Das erwarte Du nicht, dass Du auf dieser Welt zu einem Ziel gelangest! Du musst jagen. Windhundartig treibt Dich die Einrichtung Deines Gehirns - und der Ungenante, der dahinter steht - von Illusion zu Illusion. Diese aufzulösen ist Deine Aufgabe. Das ist der Sisifus-Felsen, den Du wälzest. Kanst Du das nicht, so bist Du im günstigsten Fall Wiederkäuer - wie die katolische Teologie seit Hunderten von Jahren - die sich den gleichen Illusions-Fras immer wieder vorlegt. Bist Du aber Kämpfer, bist Zerstörer, und damit auch Baumeister, dann eilst Du von Bau zu Bau, von Konstrukzion zu Konstrukzion; denn, was Du errichtet, Glüklicher, darfst Du wieder zerstören. Und lebst Du in einer Zeit, in der angefressene Monumentalbauten und Chinesische Mauern in Masse vorhanden sind, dann schäze Dich zweimal glüklich, indem Du sie niederwirfst und Plaz machst für Neues. Denn Dein Wesen, Mensch, ist Bewegung, nicht Ruhe. Die reichste Geschichte hat derjenige, der die meisten Illusionen aus sich herausschleudert. "Staat", "Gesellschaft", "Religion", [...], das sind Illusionen, gegen die Du ankämpfen, und die Du zerstören darfst. Wenn Du 's kanst. Wenn Du musst. Wenn Dich Dein Dämon treibt, Deine letzte Instanz, auf die Du hören musst. [...] Denn wenn es etwas Wahres gibt, so ist es zweifellos jene Kraft, die Dich immer wieder antreibt, die Nebel dieser Täuschungswelt zu zerreissen, und auf das zu pochen, von dem Du einzig weisst, dass es Dir unmittelbar gegeben ist: Deine Seele. [...] Du gehst vielleicht zu Grund. Aber zu Grunde zu gehn in der Welt der Erscheinungen, ist ja das Loos von uns Allen." Oskar Panizza | Der Illusionismus und die Rettung der Persönlichkeit | Leipzig 1895


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